08.11.2019

Prof. Gabriel Felbermayr: Norddeutschland ist abgehängt

Nachrichten | Politik

Im Sommer 2019 muss Deutschland umdenken. Nach dem großen Crash 2009 lief die Wirtschaft wie eine gut geschmierte Maschine. Die Arbeitslosenzahlen sanken rapide, die Wirtschaft florierte und kaum jemand kannte den Begriff Rezession noch. Doch Anfang des Jahres zogen die ersten dunklen Wolken am Horizont auf, der Optimismus sank, die Zahlen auch. Wie die Lage wirklich ist und wie man sich auf die Zukunft vorbereiten sollte, darüber hat der AGA mit Prof. Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, gesprochen.

Der AGA-Wirtschaftstest signalisiert seit Längerem, dass unsere Mitglieder nicht mehr so positiv in die Zukunft schauen. Herr Prof. Felbermayr, wie schätzen Sie die Situation ein?

Prof. Gabriel Felbermayr: Nach den jüngsten Daten hat die Konjunktur bereits Anfang 2018 den Wende-punkt überschritten, sodass die deutsche Wirtschaft nun seit mehr als einem Jahr im Abschwung ist, der vor allem die Industrie betrifft. Gleichzeitig haben wir einen recht robusten Dienstleistungssektor und einen überhitzenden Bausektor. Das ist bemerkenswert. Denn meist laufen die einzelnen Branchen parallel in ihrer Entwicklung. Das ist diesmal anders, und damit tun wir uns ein bisschen schwer. Die Industrie ist für Deutschland ein zentraler Faktor in der ökonomischen Wertschöpfung. Langsam merken wir, dass die industrielle Rezession auch Bremseffekte in den anderen Branchen verursacht.  Gesamtwirtschaftlich sehen wir noch keine ernsthafte Rezession mit starken negativen Wachstumsraten. Wir sollten übrigens das R-Wort auch nicht zu wichtig nehmen. Entscheidender ist, dass wir die Trendwachstumsrate in Deutschland nicht weiter abrutschen lassen, denn diese ist in den letzten Jahren deutlich gesunken und sinkt weiter. Das hat viele Gründe: Fehlende Reformen, die Demografie, wir haben in diesem Land innerhalb der OECD die zweithöchsten Strompreise und anderes mehr. Es hat seit Gerhard Schröder keine wirklich tiefgreifenden Reformen mehr gegeben, die das wirtschaftliche Potenzial Deutschland stärken – sei es am Arbeitsmarkt oder in der Besteuerung. Und es gibt eine Phalanx, die im Zusammenhang mit dem Thema Umwelt gerne neue Steuern sehen würde, ohne vorher zu klären, wie sich das auf die Netto-Wettbewerbsfähigkeit auswirken wird. Ja, Klimaschutz ist wichtig, aber die Maßnahmen müssen ausgewogen sein.

Gibt es auch strukturelle Probleme in Deutschland?

Prof. Felbermayr: Massive. Das langfristige Problem ist die Demografie. Unternehmen finden kaum noch Fachkräfte, sie können ihre Ausbildungsstellen nicht besetzen, die Zahl der Schulabgänger wird geringer und das Durchschnittsalter in den Betrieben steigt. Das hat Folgen, denn die Innovationsfähigkeit leidet, wenn der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt. Neue Technologien werden langsamer angenommen und umgesetzt, großen Veränderungen steht man skeptischer gegenüber. Das führt dazu, dass die Trendwachstumsrate in Deutschland sinkt. Wenn wir 2019 ein halbes Prozent BIP-Wachstum schaffen, dann ist das gut. Der Trend, der in den vergangenen Jahren bei rund 1,5 Prozent lag, geht Richtung ein Prozent zurück über die nächsten fünf, sechs Jahre. Wenn zu so einer Entwicklung ein Präsident Trump und ein Brexit hinzukommen, dann ist der Weg nicht weit bis zu einer leichten Rezession.

Wie beurteilen Sie die Lage in Norddeutschland?

Prof. Felbermayr: Norddeutschland ist leider in vielerlei Hinsicht wirtschaftlich abgehängt. Wir sollten nicht mehr nur über das Ost-West-Gefälle sprechen, mittlerweile müssen wir über ein Süd-Nord-Gefälle reden. Das folgt den Höhenmetern und hier ist es verdammt flach. Was mich umtreibt, ist weniger die Geografie: Denn 120 Kilometer von Kiel entfernt ist die dänische Grenze und jenseits der Grenze sind die Prokopf-Einkommen deutlich höher – bis zu 10.000 Euro. Wie kann das sein? Dort gibt es dieselbe Randlage, da gibt es eine ähnliche Kultur, da gibt es eine große deutsche Minderheit. Es muss also doch mit Regulierung, Bürokratie und der Umsetzung von Gesetzen zu tun haben. Norddeutschland hat in vielen Bereichen unter den globalen Verwerfungen zu leiden, wie zum Beispiel in der Hafenwirtschaft. Die gesamte Logistikbranche ist davon stark betroffen. Die demografische Situation ist im Norden klar schlechter als im Süden – abgesehen von Hamburg. Da hat der Süden einen klaren Vorteil, denn nach Bayern ziehen Menschen hin, anders als in die nördlichen Flächenstaaten. Absehbar wird hinzukommen, dass durch die EU-Budgetreformen der Norden verstärkt zur Kasse gebeten wird. Da muss die Politik aufpassen. Die Messe ist noch nicht gelesen, aber da könnte noch die eine oder andere unschöne Überraschung schlummern.

Die Digitalisierung begleitet die deutsche Wirtschaft seit einigen Jahren sehr intensiv. Wo sehen Sie dabei die größten Herausforderungen für kleine und mittlere Unternehmen?

Prof. Felbermayr: Der größte limitierende Faktor für die Unternehmen ist die Verfügbarkeit von IT-Spezialisten, die man zu vernünftigen Löhnen dauerhaft an das Unternehmen binden kann. Diesen Fachkräften steht die Welt offen, sie bekommen gerade von großen Unternehmen beste Konditionen angeboten. Da können die KMU nicht mithalten. Aus diesem Problem folgt alles andere: Die Geschwindigkeit der DSGVO- Umsetzung verläuft oft recht schleppend und die Betriebe sind langsam sind bei der Umsetzung neuer digitaler Geschäftsmodelle, dem Einsatz von Artificial Intelligence oder der Block Chain zur Abwicklung von Exportgeschäften.

Ist Deutschland in Sachen Digitalisierung weltweit wettbewerbsfähig?

Prof. Felbermayr: Nein, ist es nicht. Selbst in Europa liegen viele Länder noch deutlich vor Deutschland, wie beispielsweise Österreich. Hinter Ländern wie Singapur, Korea oder auch den USA liegen wir weit zurück. In Deutschland muss Bundesminister Altmaier das Thema Digitalisierung deutlich stärker in den Fokus rücken. Das hat er mittlerweile verstanden. Diesem Lippenbekenntnis müssen jetzt aber auch Taten folgen. Für ein Land wie Deutschland wird es immer unerträglicher, wenn es in weiten Teilen über kein leistungsfähiges Mobilfunknetz verfügt. Wir reden schon über 5G, aber heute kann es passieren, dass ein Mitarbeiter auf der Fahrt vom Lager in die fünf Kilometer entfernte Fabrik gar keinen Empfang hat. Das Problem muss dringend gelöst werden. Darüber hinaus haben wir ein Bildungsproblem. Große Teile der Lehrerschaft sind alt. Das ist nicht zwangsläufig ein Problem, aber zu oft können sie nicht neue digitale Methoden und Instrumente unterrichten, wenn sie sich diese nicht selbst angeeignet haben. Dazu kommen noch demografische Herausforderungen. Deswegen sind für mich die Themen, Bildung, Zuwanderung und Digitalisierung sehr eng miteinander verwoben. Qualifizierte Einwanderung ist eine Chance. Das müssen nicht alles Diplomingenieure sein. Es können auch Flüchtlinge aus Syrien sein, die gezielt auf die neuen Technologien ausgebildet werden. Wir benötigen junge Menschen mit einer Affinität zu neuen Technologien, und die werden zukünftig verstärkt aus dem Ausland kommen müssen.

Wie werden die Auswirkungen des Brexits auf Deutschland, speziell Norddeutschland, sein?

Prof. Felbermayr: Die sind schwer einzuschätzen.  Wir wissen nicht, was ein harter Brexit ist. Wir würden natürlich gerne konstruktiv, mit rechtlichen Versicherungen auseinandergehen; mit einem Agreement, das den Status quo verlängert. Wenn wir das nicht erreichen, bekommen wir große Rechtsunsicherheit, aus der nichts Gutes entstehen kann. Aber wie schlecht es wird, hängt davon ab, wie auf beiden Seiten reagiert wird. Ein Beispiel: Durch einen harten Brexit müsste auf einmal WTO-Recht angewandt werden, weil Großbritannien nicht mehr dem Europarecht unterliegt. Aber selbst das ist nicht in Stein gemeißelt. Die Briten könnten unter bestimmten Rechtsvoraussetzungen sagen: Zölle erheben wir gar nicht – nicht auf Autos, nicht auf Lebensmittel. Wenn sie dennoch Zölle erheben, wird der Brexiteer im Supermarkt merken, dass seine Lebensmittel teurer werden. Das kann ihn nicht freuen. 50 Prozent des Kalorienbedarfs in Großbritannien werden durch EU-Importe gedeckt, wieso sollten sie Zölle darauf erheben? Wieso sollten sie Lebensmittelinspektionen oder überhaupt technische Inspektionen für Güter machen, die jetzt nach denselben Standards in der EU wie auch in Großbritannien produziert werden? Sie können auf das Schikanieren der ausländischen Produzenten gut verzichten. Wenn die Briten diesen Schritt nutzen, um den eigenen Markt zu liberalisieren, dann sind die Kosten für sie und auch uns viel geringer.

Sie hoffen also auf den gesunden Menschenverstand, der in den vergangenen Monaten aber nicht immer zu sehen war…

Prof. Felbermayr: Was hat die Briten denn zum Brexit getrieben? Das war vor allen Dingen die Personenfreizügigkeit. Da werden die Briten auch keine großen Zugeständnisse machen. Aber die Nostalgiker sind keine Freihandelsfeinde, gerade die Torys nicht und ihre klassischen Wähler ebenfalls nicht. Auch durch die EU verursacht, gibt es hohe Unsicherheiten im Fall eines harten Brexits, denn die Gemeinschaft möchte natürlich die Drohkulisse aufrechterhalten. Kein Politiker kann jetzt offiziell Kompromissbereitschaft signalisieren, um einen harten Brexit zu verhindern. Aber wenn wir darüber nachdenken, was ein harter Brexit bedeutet, dann muss man einen großen Willen zur Selbstverstümmelung haben, um das durchzuziehen.

Die Welt hat sich mit dem Amtsantritt von Donald Trump im Januar 2017 verändert. Der Präsident der Vereinigten Staaten kommuniziert via Twitter und stürzt dadurch Unternehmen in die Krise. Wie bewerten Sie die ökonomischen Veränderungen, die in den USA ihren Ursprung genommen haben, und was erwarten Sie für die Zukunft?

Prof. Felbermayr: Der größte Unterschied zu seinem Vorgänger Barack Obama ist, dass Donald Trump Unsicherheit als strategische Waffe einsetzt. Die Frage ist ja nicht, ob Zölle auf Autos erhoben werden, sondern die Drohung allein, dass sie kommen könnten, ändert schon das strategische Verhalten der deutschen Automobilkonzerne. Die Konzerne müssen überlegen, ob sie in ein 25-Prozent-Zoll-Messer laufen wollen oder ob sie in den USA produzieren wollen und sich das Risiko sparen. Das kultiviert Trump auf diabolische Art und Weise. Unsicherheit zu produzieren, ist eine Verhandlungstaktik für jenen, der am längeren Hebel sitzt. Und das tun die Amerikaner. Das ist der genuine Trumpsche Politikstil. Wenn Europa einen Handelskrieg beginnt, dann haben die USA viel mehr Volumen, das sie mit Zöllen belegen können, als die Europäer. Man sieht an China, wohin das führt. Den Chinesen ist die Munition ausgegangen und Europa würde das gleiche Schicksal teilen, jedenfalls wenn der Handelskrieg im Güterhandel und mit Zöllen ausgetragen werden soll.

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