16.11.2021

"Im E-Commerce muss man heute wie ein Dirigent mit verschiedenen Solisten arbeiten"

Nachrichten | Einzelhandel | Unternehmen | Digitalisierung | Magazin

Die Cairo AG ist zu einer Erfolgsgeschichte der Möbelbranche geworden, weil sie die Digitalisierung konsequent als Chance ergriffen hat. Mit Gero Furchheim, Sprecher des Vorstands der Cairo AG und Präsident Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland e.V. (bevh), und Christoph Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer bevh, haben wir darüber gesprochen, wie das gelungen ist und wie auch andere es schaffen können.

Die Cairo AG ist aus der Verbundgruppe der Creativen Inneneinrichter entstanden, die ein Zusammenschluss von inhaber- und familiengeführten Möbelgeschäften im stationären Premiumbereich ist. Wie kam es dazu?

Gero Furchheim: Vor etwa 25 Jahren hat man in der Verbundgruppe gesehen, dass es auch in unserem Bereich der Designermöbel erste Versandhandelsgeschäftsmodelle gab. Zunächst wurden sie als Konkurrenz wahrgenommen, weil natürlich argumentiert wurde, dass es eine wichtige Leistung des Handels ist, Neuheiten in exklusiven Ladengeschäften vorzustellen und Service und Beratung vor Ort anzubieten. Im ersten Moment gab es sogar eine Abwehrhaltung, es dürfe nicht sein, dass solche hochwertigen Kollektionen im Versandhandel angeboten werden.

Und daraus entstand die Idee, aus der Verbundgruppe heraus ein Versandhandelsunternehmen zu gründen?

Furchheim: Ja, aus den etwa 40 Mitgliedsunternehmen der Verbundgruppe hat sich eine vergleichbare Anzahl zu Aktionären in der Cairo AG zusammengeschlossen Es ist somit kein Tochterunternehmen der Verbundgruppe, sondern ein eigenständiges Unternehmen. Die Cairo AG sollte von Anfang an zwei Funktionen haben. Erstens sollte sie den neuen Geschäftszweig erfolgreich bespielen und den Versandhandel noch besser machen als andere. Zweitens sollte sie für die Mitgliedsunternehmen der Verbundgruppe eine Großhandelsfunktion übernehmen. In unserer Branche ist es nach wie vor üblich, dass die meisten Möbel auftragsbezogen gefertigt werden und dadurch lange Lieferzeiten entstehen. Durch das gemeinschaftliche Handeln ist ein Unternehmen entstanden, das ein sehr gut kuratiertes Sortiment der wichtigsten Designobjekte sofort verfügbar macht. Gleichzeitig stärkt es die Verbundgruppe, indem die Mitgliedsunternehmen durch unschlagbar schnelle Lieferungen zusätzliche Umsätze generieren können.

Schafft man im Zusammenspiel mehr?

Furchheim: Die Stärke der Cairo AG ist die geschickte Kombination von gemeinschaftlichem Handeln mit dem Handeln von eigenverantwortlichen Einzelpersonen. Letztere können schnelle und mutige Entscheidungen treffen, die oftmals auch besser sind als Gemeinschaftsentscheidungen. Das Gute, das wir mit der Cairo AG geschaffen haben, ist, dass wir unter dem Strich zwar gemeinschaftlich handeln und als vom Fachhandel getragene Initiative Zugriff auf die besten Kollektionen haben. Die Dynamik und Power eines Unternehmens, das eigenverantwortlich handelt und in dem der Vorstand Themen mit eigener Handschrift vorantreibt, sind aber trotzdem da.

Wo zeigen sich noch Vorteile des gemeinschaftlichen Handelns?

Furchheim: Das gemeinschaftliche Handeln ist superstark, wenn es um das Abfedern von Risiken oder um den Kapitalstock geht. Es braucht aber wie gesagt auch Individuen, die Handlungsspielraum haben und wie ein Einzelunternehmer handeln können. Das richtige Austarieren dieser beiden Seiten ist eine Herausforderung. Ich glaube aber rückschauend, dass das bei der Cairo AG mit einer ganz besonderen eigenen Form gut gelungen ist.

Welche Marktvorteile ergeben sich durch die Gemeinschaftlichkeit gegenüber Unternehmen einzelner Gründer?

Furchheim: Man kann leichter mit großen Anbietern Ideen umsetzen, beispielsweise kann man Produkte in besonderen Ausführungen anbieten, die erst später in den gesamten Markt eingeführt werden. Gerhard Wolf hatte bei dem berühmten Eames Plastic Chair von Vitra zum Beispiel die Idee, dass dieser mit einem eichefarbenen Holzgestell angeboten wird. Er hat das durchsetzen können, weil die Cairo AG und die Mitglieder der Creativen Inneneinrichter es ihren Kunden anbieten. Später ist das Möbelstück dann sehr erfolgreich in den Gesamtmarkt eingeführt worden. Als Gemeinschaft kann man auch ganz andere Wertschöpfungsketten aufbauen, auch im Ausland. Außerdem kann der Einzelne nicht so viele Klassiker auf Lager haben, wie wir das als Cairo AG können, wodurch wir in der Gemeinschaft schneller agieren können.

Wie ist es, wenn es gegenteilige Meinungen oder Ausrichtungen gibt?

Furchheim: Es ist so, dass wir mit der Aktiengesellschaft eine Form haben, mit der die handelnden Personen sehr viel Beinfreiheit haben. Das Jahr über kann der Vorstand sehr schnell und unternehmerisch handeln, aber bei einer Hauptversammlung wird gemeinschaftlich festgelegt, wo es strategisch hingehen soll.

Und dort werden auch wichtige Entscheidungen getroffen?

Furchheim: Ja, aber ich glaube, es wäre beispielsweise bei Fragen zur Kollektion falsch, Gremien entscheiden zu lassen, weil Gremienentscheidungen ausgleichen und nie das radikale, Konventionen brechende Produkt durchlassen. Es würde auf ein Mittelmaß nivelliert. Dort ist es gut, dass die Einzelperson entscheiden kann. Durch das gemeinschaftliche Handeln, die Inhaberstruktur, die Partnerschaftlichkeit, die wir insgesamt leben, wird der Gemeinschaftsgedanke aber ganz klar festgehalten.

Haben Sie Tipps für andere, die etwas in der Art wie die Cairo AG aufbauen wollen?

Furchheim: Ganz wichtig ist es, eine Marktlücke zu finden, in der man etwas Besonderes anbieten kann. Mein Tipp aus der Erfahrung der Cairo AG ist: Wenn man gemeinschaftlich handeln will, sollte man Strukturen schaffen, bei denen das Gute des gemeinschaftlichen Handelns die Nachteile desselben überwiegt. Mutige Entscheidungen eines Einzelnen auf einer Messe beispielsweise treiben ein Unternehmen. Aber wenn wir zurück am gemeinsamen Tisch sind und zusammenarbeiten, wissen wir, dass wir unser Fundament in der Gemeinschaft haben. Und das ist auch gut so.

Das Geschäftsmodell der Cairo AG war am Anfang ja kein digitales, sondern vom klassischen Versandhandel geprägt.

Furchheim: Genau, auch heute noch, also obwohl wir mehrheitlich ein E-Commerce-Unternehmen sind, spielt der Katalog eine wichtige Rolle in unserem Geschäftsmodell. Dadurch aber, dass wir die nötige Infrastruktur, Produktfotos und -texte hatten, konnten wir schnell in den E-Commerce einsteigen. Am Anfang hat es im E-Commerce gereicht, einfach nur da zu sein. Heute muss man wie ein Dirigent mit verschiedenen Solisten arbeiten, die zusammenspielen sollen. Man braucht für alle Bereiche die jeweils richtigen Fachleute.

Möbel online zu verkaufen ist nicht ganz leicht, denn viele Menschen möchten noch immer gerne Probe sitzen oder das Material fühlen. Wie gehen Sie bei der Cairo AG mit dieser Online-Hürde um? Haben Sie deswegen die Ladengeschäfte in Frankfurt und Nürnberg?

Furchheim: Das ergänzt sich gut, weshalb Multi-Channel auch ein wichtiger Bestandteil bei uns ist. Natürlich gibt es Menschen, die das Kaufen im Möbelgeschäft mehr wertschätzen, aber der E-Commerce hat ebenfalls riesengroße Chancen. Wir haben viel dafür getan, dass wir diese Chancen heute nutzen. Mit unserem dreidimensionalen Ladengeschäft auf 3d.cairo.de lassen wir die verschiedenen „Erfahrungswelten“ der Kunden zusammenwachsen: Sie bekommen zu Hause Inspirationen durch unseren Katalog und Online-Shop, können aber auch durch die Ladengeschäfte flanieren und alles anfassen, oder die Farbmuster, die wir gerne zusenden, wiederum zu Hause begutachten. Ladengeschäfte sind also eine Verlängerung des E-Commerce. Die wesentlichen Prozesse des Handelns werden aber im E-Commerce stattfinden.

Wie lassen sich durch Ihre Arbeit im bevh ähnliche Erfolgsgeschichten wie die der Cairo AG auch bei anderen fördern?

Furchheim: Unsere Stärke sind die Arbeitsgemeinschaften, der Austausch mit den Kollegen, das Setzen von Impulsen. Wir schaffen die passenden Rahmenbedingungen, sodass auf einem ebenen Spielfeld miteinander gehandelt werden kann. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Verordnungen im Raum stehen, die die Onlinetätigkeit der Mitgliedsunternehmen im bevh beeinträchtigen. Es braucht ein entschiedenes Eintreten dafür, dass die Chancen der Digitalisierung erkannt werden. Das ist in Deutschland manchmal schwierig.

Christoph Wenk-Fischer: Unsere Aufgabe als Verband ist es, zu zeigen, dass E-Commerce manchmal eben auch die kleinen Schritte sind. Dass E-Commerce nicht unbedingt bedeutet, dass ich Millionen in einen Webshop investiere oder auf den großen Marktplätzen aktiv bin. Es geht darum, zu schauen, wie gut meine bisherigen Prozesse funktionieren, und worin ich eigentlich exzellent bin. Man muss sich, wie Gero Furchheim vorhin so schön sagte, seine Nische suchen.

Einfach ins Internet gehen reicht also nicht?

Wenk-Fischer: Nein, man muss sehr gut überlegen, warum man digital handeln will. Möchte ich neue Kundengruppen erschließen? Möchte ich mein klassisches Angebot ergänzen? Unsere Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahren mit sehr viel Trial-and-Error in die Zukunft „vorangeirrt“. Heute sehen wir die Erfolge überall. Wir wollen den kompletten Handel dazu ermuntern, das auch zu tun, egal, ob Einzel- oder Großhandel.

Ist denn wenigstens der Einstieg in den E-Commerce in den vergangenen Jahren einfacher geworden?

Wenk-Fischer: Der Einstieg in den E-Commerce ist supereinfach, das bedeutet aber nicht, dass man von heute auf morgen zum erfolgreichen Global Player werden kann. Jeder muss schauen, was er schaffen kann, wie er seine lokale Präsenz mit einem Webauftritt stärken und sein Schaufenster bestellfähig machen kann. Das reicht schon, ist aber absolut notwendig, da Handel künftig vor allem digital sein wird.

Welche Trends sehen Sie generell im E-Commerce?

Wenk-Fischer: Spätestens durch Corona haben alle erkannt, dass sie nicht drum herumkommen, ein digitales Geschäft aufzubauen. In Zukunft werden wir eine Zweiteilung des Handels erleben: die automatisierte Versorgung der Grundbedürfnisse einerseits und ein mit Emotionen aufgeladenes Einkaufen andererseits. Darüber hinaus wird alles – ob Rohstahl, Möbel oder Lebensmittel – übers Internet vertrieben werden und die Grenzen zwischen stationär und online werden verschwinden: nahtloses Einkaufen oder Seamless Commerce ist die Zukunft.

Furchheim: Spannend finde ich auch die Entwicklung, dass wir von klassischen Webshops auch in andere Bereiche hineingehen. Das fängt schon damit an, dass immer häufiger in Social Media gekauft wird. Es wird mit Sicherheit auch durch Spracherfassung andere Interfaces geben, in denen bestellt wird.

Wenk-Fischer: Es gibt auch immer mehr die Tendenz, dass Anbieter ihre Plattformen öffnen und für kleinere Anbieter zugänglich machen. So werden auch Spezialsortimente für Kunden zugänglich.

Furchheim: Ja, aber Plattformen werden häufig als das bedrohliche, große Konstrukt wahrgenommen. Dabei bieten sie sehr oft den niedrigschwelligen Einstieg in den E-Commerce.

Wie unterstützt der bevh seine Mitglieder, die Chancen des E-Commerce zu nutzen?

Wenk-Fischer: Unser Hauptjob ist es, den Menschen in diesem Riesenthema E-Commerce Leitlinien zu geben, Leuchtturm-Projekte aufzuzeigen und konkrete Beratung zu bieten. Aber auch immer wieder Mut zu machen und bei Misserfolgen aufzufangen. Manchmal sind wir Seelentröster in bestimmten Bereichen. Aber wir tun auch alles dafür, dass es dann wieder aufwärts geht.

Der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland e.V. (bevh)

ist die Branchenvereinigung der Interaktiven Händler, d.h. der Online- und Versandhändler. Neben den Versendern sind dem bevh auch namhafte Dienstleister angeschlossen. Nach Fusionen mit dem Bundesverband Lebensmittel-Onlinehandel und dem Bundesverband der Deutschen Versandbuchhändler repräsentiert der bevh kleine und große Player, die zusammen mehr als 75 Prozent des Umsatzes ausmachen. Der bevh ist seit 2021 auch Mitglied von NORDHANDEL. Damit ist der Onlinehandel als wichtige Vertriebsform sichtbar in diesen Dachverband mit nun zwölf Mitgliedern integriert. Hier erfahren Sie mehr über den bevh.

Fotos: Nico Wallfarth