16.11.2022

Nachgefragt bei Ludovic Subran: Unsicherheit mit Weitblick begegnen

Nachrichten | Magazin

EZB-Zinspolitik, Ukraine-Krieg, Corona-Folgen, Europas Positionierung gegenüber China - der AGA hat beim Chefvolkswirt der Allianz SE und Leiter von Allianz Group Economic Research, Ludovic Subran, nachgefragt.

Die EZB hat 2022 eine „historische Wende“ in der Zinspolitik vollzogen. Wie bewerten Sie das Timing dieses Schritts und welche Inflationsentwicklung erwarten Sie in den nächsten Jahren?

Ludovic Subran: Die erste Zinsanhebung nach elf Jahren im Sommer 2022 war ein wichtiger Moment, der eine neue geldpolitische Phase eingeläutet hat. Die EZB, wie auch andere Zentralbanken, hat die Nachhaltigkeit des Preisanstiegs unterschätzt und diesen vielleicht durch ein zu starkes Geldmengenwachstum in den Jahren nach der globalen Finanzkrise letztendlich sogar noch verstärkt. Eine Kehrtwende war dringend notwendig. Ausschlaggebend wird nun sein, wie die EZB die nächsten Zinsschritte plant. Im September 2022 hat die EZB eine grundlegende Änderung in der Art und Weise, wie geldpolitische Entscheidungen getroffen werden, vollzogen. Nämlich sehr stark getrieben von der momentanen Inflationsentwicklung und ohne sich sehr auf einen Zinspfad im Vorfeld festzulegen.

Der Inflationsausblick steht und fällt mit der Energiepreisentwicklung. Trotz der stetigen Entspannung auf der Angebotsseite gehen wir davon aus, dass sich erst Ende des Jahres 2022 eine Abschwächung des Preisdrucks einstellen wird. Der hohe Kostendruck auf den vorgelagerten Fertigungsstufen und auch steigende Lohnkosten haben die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte enorm ansteigen lassen. Bis zum Frühjahr 2023 wird vor allem das Damoklesschwert des kompletten russischen Gasstopps weiter auf der Inflationsentwicklung lasten. Wir rechnen damit, dass sich die Gesamtinflation im Euroraum in 2022 auf 8,3 Prozent belaufen und sich 2023 auf 5,7 Prozent abschwächen wird. Die EZB dürfte auch mittelfristig die geldpolitischen Zügel relativ straffhalten müssen, um einem dauerhaften Überschießen des 2 Prozent-Inflationsziels entgegenzuwirken.

Ukraine-Krieg und Corona – einschneidende Ereignisse haben den deutschen und europäischen Außenhandel getroffen. Welche Lehren sind zu ziehen?

Subran: Deutschland erfährt momentan eine Zeitenwende, die sich auf die Entwicklung des Außenhandels nachhaltig auswirken wird. Während der Coronakrise wurde deutlich, wie anfällig unser auf internationale Handelsströme ausgerichtetes Wirtschaftsmodell auf Störungen reagiert. Die komplexen Lieferketten waren von den harten Corona-Eindämmungsmaßnahmen in China besonders betroffen. Die deutsche Industrie dürfte weiterhin unter Eindämmungsmaßnahmen in China leiden, wenn sich dadurch die Lieferkettenschwierigkeiten nochmals verlängern bzw.
verschärfen. Und das Risiko einer erneuten Corona-Welle rund um den Jahreswechsel 2022/23 kann aktuell nicht ausgeschlossen werden.

Hinzu kommt, dass der Krieg in der Ukraine, und die damit verbundenen Importsanktionen, Deutschlands Energieabhängigkeit gnadenlos offengelegt hat. Dieser müssen wir nun mit extrem hohen Gaspreisen, und möglicherweise mit Rationierungsmaßnahmen, Rechnung tragen. Gleichzeitig ist auch klar geworden, dass wir der Knappheit des Erdgases als preisbestimmendem Energieträger kurzfristig kaum etwas entgegenzusetzen haben – vorrangig aufgrund der noch zu geringen Investitionen in erneuerbare Energien.

Welche Lehren lassen sich nun daraus ziehen?

Subran: Im Fall der Corona-Krise ist es sicherlich so, dass unsere Lieferketten zu sehr auf Effizienzgewinne und zu wenig auf Widerstandsfähigkeit ausgerichtet waren (und immer noch sind). Hier werden sich sicherlich Veränderungen im unternehmerischen Handeln vollziehen, die vielleicht zu mehr „Onshoring“ führen könnten. Eine generelle Deglobalisierungstendenz sehe ich aber nicht. Im zweiten Fall hat sich fehlende strategische Weitsicht offenbart – sowohl vonseiten der Politik, aber auch der Industrie. Nach Russlands Annexion der Krim sind die Importe von billigem russischen Gas immer weiter angestiegen, und an Nordstream 2 wurde festgehalten, obwohl man schon damals hier den Stecker hätte ziehen sollen.

Wie sollte sich Europa künftig gegenüber China positionieren?

Subran: Das möglicherweise wachsende geostrategische Risiko eines selbstbewussteren Chinas zeigt auf, dass Deutschlands Handelsverflechtungen bisher kaum an sicherheitspolitisches Denken gekoppelt sind. China ist für die deutsche Wirtschaft nach wie vor extrem wichtig. Sollte China sich politisch jedoch immer mehr von westlichen Nationen entfernen, dürfte Deutschland zunehmend unter Zugzwang kommen, eine Systementscheidung zu treffen, insbesondere wenn Wirtschaftsinteressen dem westlichen Werteverständnis entgegenstehen könnten. Neben dem naiven Umgang mit Russland haben die Haltung Chinas gegenüber dem Krieg in der Ukraine und die wachsende Gefahr einer Invasion Taiwans die Sorge um die Ausgestaltung der Handelsbeziehungen mit China verstärkt. Ich erachte eine bewusste und tragfähige Neuorientierung des deutschen Wirtschaftsmodells für dringend notwendig – gerade unter Berücksichtigung von Sicherheitsinteressen. Zugleich möchte ich aber warnen, zum jetzigen Zeitpunkt voreilige Schlüsse über China zu ziehen. Gerade in Zeiten großer Unsicherheit ist es geboten, mit Weitblick zu agieren.

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