13.11.2020

Prof. Claudia Kemfert: „Norddeutsche Unternehmen haben einen Wettbewerbsvorteil, wenn die Energiewende erfolgreich umgesetzt wird“

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Prof. Dr. Claudia Kemfert hat sich in den vergangenen 25 Jahren als Wissenschaftlerin, Politikberaterin oder Energieökonomin auf nationaler und europäischer Ebene einen Namen gemacht. Sie ist auch viel gefragte Referentin und erklärt in ihren Vorträgen, warum eine kluge Energiewende nicht teuer sein muss – so auch auf dem vergangenen AGA Unternehmertag im Herbst 2020. Wir haben mit der gebürtigen Delmenhorsterin über Energiewende und Klimapolitik in Krisenzeiten gesprochen.

Als gefragte Expertin zur Klimapolitik, Beraterin der EU-Kommission sowie der Bundesregierung, sagen Sie: „Die Energiewende ist ein langfristiges Projekt.“ Erläutern Sie uns das bitte.

Prof. Claudia Kemfert: Die Energieversorgung umfasst lange Pfadabhängigkeiten: Wenn ein Kraftwerk gebaut wird, soll dies mindestens 40 Jahre Energie liefern. Genauso wie beispielsweise Infrastrukturprojekte wie Erdgaspipelines oder Flüssiggasterminals. Auch der Bau, Betrieb und die Verschrottung von Fahrzeugen umfasst Zeiträume von mindestens zwei Jahrzehnten. Will heißen: Alles was wir heute tun – oder auch nicht tun – hat Auswirkungen auf die kommenden Jahrzehnte. Wir wollen eine Komplettversorgung mit erneuerbaren Energien in allen Bereichen. Und nicht einmal der halbe Weg ist geschafft. Somit liegt noch eine lange Strecke vor uns.

Wie bewerten Sie die Entwicklung der Energiewende in den vergangenen fünf Jahren?

Prof. Kemfert: Nicht gut, da vor allem der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien massiv ausgebremst wurde. Zwar beginnt nun endlich der überfällige Kohleausstieg, dieser muss aber zwangsläufig begleitet werden von einem Einstieg in die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien. Leider werden Hemmnisse kaum beseitigt. Zudem muss mehr getan werden, um Energie einzusparen. Und die nachhaltige Verkehrswende lässt komplett auf sich warten. Eine kluge Energiewende geht anders.

Stehen die Herausforderungen der Corona-Pandemie im Widerspruch zu einer starken Klimapolitik?

Prof. Kemfert: Die Corona-Krise macht deutlich, dass in Krisenzeiten Systemrelevanz und Resilienz sehr wichtig sind. Klimaschutz und Energiewende sind Lösungen für beide Anforderungen: Eine erfolgreiche Energiewende, die eine Vollversorgung mit heimischen erneuerbaren Energien gewährleistet, ist systemisch sinnvoll und schafft eine enorme wirtschaftliche Resilienz; sie macht uns unabhängig von externen negativen Schocks. Darüber hinaus stärkt sie die regionale Wertschöpfung, fördert Innovationen und steigert die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Wirtschaft. Dekarbonisierung, Digitalisierung, Dezentralisierung und Demokratisierung sind die Schlüsselbegriffe der Zukunft.

Warum ist es wichtig, besonders in Krisenzeiten die vereinbarten Klimaziele weiterzuverfolgen und am Thema Umweltschutz dranzubleiben?

Prof. Kemfert: Die Corona-Krise erfordert aufgrund der derzeitigen sozialen Ungleichheit und des bisher unzureichenden Klimaschutzes einen Anschub hin zu einer sozial-ökologischen Transformation. Da umfangreiche Wirtschaftshilfen generiert wurden, die vor Corona undenkbar waren, muss zwangsläufig die mittel- bis langfristige Wirkung mitberücksichtigt werden. Zudem besteht jetzt die einmalige Chance, der Wirtschaft durch gezielte finanzielle Unterstützung bei der Transformation hin zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit zu helfen.

Braucht es immer erst eine Krise, damit Unternehmen innovative Ideen auch umsetzen?

Prof. Kemfert: Nicht wirklich, aber der Neustart aus einer Krise sollte als Chance für Klimaschutz und Nachhaltigkeit genutzt werden. Insbesondere die deutsche Industrie leidet seit Jahren an einer Investitionsschwäche und muss dringend modernisiert werden. Durch gezielte Investitionsallianzen kann die
notwendige Transformation gelingen. Sonst droht aufgrund langer Pfadabhängigkeiten der Anschluss
komplett verloren zu gehen.

Welche wirtschaftlichen Chancen bietet die Energiewende den norddeutschen Unternehmen des Groß- und Außenhandels sowie der unternehmensnahen Dienstleistungen?

Prof. Kemfert: Die Energiewende bietet enorme wirtschaftliche Chancen, insbesondere für norddeutsche Unternehmen. Sei es im Bereich der erneuerbaren Energien, Energieeffizienz, klimaschonender Industrie samt grünem Wasserstoff und nachhaltige sowie klimaschonende Mobilität. Insbesondere in Norddeutschland sind die Ausgangsbedingungen besonders gut. Norddeutsche Unternehmen haben einen Wettbewerbsvorteil, wenn die Energiewende weiterhin erfolgreich umgesetzt wird.